Zwei gemütliche Autostunden westlich von Boston, inmitten der Hügel von Berkshire, liegt Tanglewood. Der kleine, feine Ort im US-Bundestaat Massachusetts ist für die Klassikszene ein bisschen wie das Paradies auf Erden. Ganz besonders in der warmen Jahreszeit. Seit 1937 hat das Boston Symphony Orchestra dort seine Sommerresidenz. Zudem findet ein Festival statt, das sich auch für Jazz und Pop geöffnet hat. Sängerinnen, Instrumentalisten, Komponisten, Dirigenten, hochbegabter Nachwuchs treffen die besten Lehrer der USA. Überall sind Klänge zu vernehmen: im Freien, in Sälen, in großer und kleiner Besetzung, als Lied oder Arie.
Von James »Jimmy« Levine sind diverse Aussagen überliefert, wie überaus wohl er sich zwischen all den Tönen und Kollegen fühlte, damals, als die Welt für ihn noch völlig in Ordnung gewesen war. »Leben Sie hier auf einer Insel der Seligen?«, wollte die »FAZ« im August 2007 wissen. »Ja, ich bin hier in Tanglewood sehr glücklich«, antwortete der Dirigent, der in jenen Tagen in der US-Szene noch verehrt wurde. »Ich habe mein ganzes Leben lang mit jungen Leuten gearbeitet, das ist also etwas ganz Natürliches für mich, dieses Zusammensein mit Musikern aus allen Kulturen, von allen Altersstufen. Die Atmosphäre hier ist unprätentiös, nicht hektisch, aber ernsthaft.«
»James hatte immer einen Tross kleiner Buben um sich«
Levine meinte es vermutlich exakt so, wie er es sagte. Er hatte jede Menge Spaß im Leben und seinem Job. Man konnte es sehen, wenn er sich im Freizeit-Look zu Daniel Barenboim ans Klavier setzte, mit ihm vierhändig spielte und das Publikum verzückte. Ein Jahrzehnt später verwandelte sich die Unbeschwertheit in eine schwere Last. Levines Beschreibungen über seine Zeit in Boston und anderswo erschienen in einem anderen Licht. Sätze Levines über seine Freude an der Arbeit mit jungen Menschen im Allgemeinen und dem Studentenorchester in Tanglewood im Speziellen erhielten im Nachhinein eine andere Note.
Es war Mitte März 2018, als die New Yorker Metropolitan Opera (Met) nach 46 Jahren Zusammenarbeit den Dirigenten sang- und klanglos feuerte. In der ach so sauberen Klassik-Szene ging es plötzlich schmuddelig zu, die #MeToo-Debatte hatte nach Hollywood auch Musiktheater und Orchester erreicht. Der Vorwurf: sexueller Missbrauch. »James hatte immer einen Tross kleiner Buben um sich«, wusste etwa die Sopranistin Edda Moser in der »Welt« zu berichten.
Die Met prüfte die Anschuldigungen in Eigenverantwortung. Über das Ergebnis informierte sie die Öffentlichkeit in einer knappen Mitteilung, die Raum für Spekulationen öffnete. »Die Untersuchung hat glaubhafte Beweise erbracht, dass Herr Levine vor und während seiner Arbeit bei der Met sexuell missbrauchendes und belästigendes Verhalten gezeigt hat«, hieß es darin. Es war eine verschwurbelte Erklärung dazu, was in der Klassik-Szene seit Jahren an Gerüchten über den Beschuldigten kursierte. Der Satz »Alle haben es irgendwie gewusst« machte zwischen Boston und Bayern die Runde, wo Levine zwischen 1999 und 2004 die Münchner Philharmoniker als Chefdirigent zu mancher Glanztat bewegte, auch wenn sie mit ihm nicht das Niveau der Berliner Konkurrenz erreichen sollten.
Geraune über sexuelle Übergriffe
Zu dem Zeitpunkt der Entscheidung der Met hatte der Künstler dort mehr als 2.500 Aufführungen 85 verschiedener Opern dirigiert, von Mozart über Verdi bis zu Weltpremieren von Werken zeitgenössischer Komponisten – eine schon rein physisch unglaubliche Leistung, die Levine gesundheitlich teuer bezahlen sollte. 2011 musste er sich zurückziehen. Nach mehreren Rückenoperationen kehrte er zwei Jahre später ans Pult zurück – im Rollstuhl, von Parkinson gezeichnet.
Das Geraune über sexuelle Über- und Missgriffe verfolgte Levine nach Europa. Die Grünen im Münchner Stadtrat waren gegen sein Engagement. Der SPIEGEL verteidigte den US-Amerikaner im November 2008: »Seitdem der Name Levine im Münchner Gerede ist, schnüffeln selbsternannte Sittenwächter unter der Gürtellinie des Dirigenten und streuen ihre unappetitlichen Ondits, feiger noch und frecher als die Holzköpfe im Rathaus ihre Vorbehalte.«
Die Vorwürfe bestritt der Musiker unverdrossen. Levine verklagte die Met auf 5,8 Millionen Dollar wegen Verleumdung. Die konterte mit einer Klage gegen den Dirigenten über ebenfalls 5,8 Millionen US-Dollar, weil er seine Pflichten verletzt und dem Haus nachhaltig geschadet habe. Beide Seiten einigten sich außergerichtlich. Ob Geld – in welche Richtung auch immer – floss, wurde nicht öffentlich.
Wie ätzend der Streit war, zeigte sich in der Erklärung der Met zum Tod Levines, der am Mittwoch bekannt wurde. Nach Angaben der »New York Times« starb er bereits am 9. März mit 77 Jahren im kalifornischen Palm Springs. Die Oper würdigte sein Engagement und seine Bedeutung für ihre Entwicklung, ließ aber auch kühle Distanzierung durchblicken. »Trotz seiner unbestreitbaren künstlerischen Leistungen für die Met geriet seine Beziehung zu ihr aufgrund von Vorwürfen sexuellen Fehlverhaltens ins Wanken«, hieß es. »2018 wurde er nach einer dreimonatigen Untersuchung durch einen externen Anwalt von seiner Position als Ehren-Musikdirektor entlassen.«
So endete, man muss es so sagen, eine glanzvolle Künstlerkarriere mit einem brutalen Absturz. Begonnen hatte sie wie so oft bei Talenten mit genialen Zügen. Levine kam am 23. Juni 1943 in Cincinnati zur Welt, wuchs in einer musikbegeisterten Familie auf und spielte – so ist es überliefert – mit der Stricknadel seiner Oma Dirigent zu Musik aus dem Radio. Mit zehn trat er erstmals solistisch als Pianist auf. Später studierte an der berühmten Juilliard School in New York und debütierte mit 18 Jahren als Orchesterleiter.
1964 heuerte Levine als Assistent bei dem großen Kollegen Georges Szell an, der ihm beibrachte: »Solange Kinder geboren werden, müssen wir weiterspielen, denn sie haben die Fünfte von Beethoven noch nicht gehört. Ich gebe ihm recht.« Es folgten Engagements bei amerikanischen Top-Orchestern in Cleveland, Chicago und eben Boston. Bei den Bayreuther und Salzburger Festspielen trat er in den Achtziger- und Neunzigerjahren häufig auf. Der Amerikaner gehörte zu den Topverdienern der Klassik-Szene: In München erhielt er fast zwei Millionen Mark brutto im Jahr.
James Levines Verhalten gegenüber jungen Männern wird seine Liebe zur Musik ewig überschatten. Versucht man die Vorwürfe auszublenden, war Levine ein Top-Dirigent alter Schule. Er liebte Pathos und Wucht – und stand dazu. Die Bemühungen, alte Werke »alt« klingen zu lassen, betrachtete er skeptisch bis arrogant: »Wenn dann Leute zu mir kommen und sagen, in dieser und jener Zeit hat man ohne Vibrato gespielt, bin ich irritiert. Woher wollen wir das wissen? Keiner von uns war dabei«, erklärte er in dem »FAZ«-Interview von 2007 – ein Totschlagargument gegen die historisch informierte Aufführungspraxis.
Eigentlich sollte Levine im Januar 2021 beim Maggio Musicale Fiorentino in Florenz mehrfach auftreten, was heftige Reaktionen auslöste. Intendant Alexander Pereira sagte dem »Musical America«: »Ich versuche immer, die zu schützen, die verteufelt werden – ob zu Recht oder zu Unrecht.« Die Konzerte wurden Corona-bedingt abgesagt. Auf der Webseite hieß es am Mittwoch: »Das Teatro del Maggio wird in Kürze über den neuen Termin informieren.«
Und auch über den neuen Dirigenten.
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