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Bachmannpreisträger Ferdinand Schmalz träumt sich aus der Krise
Foto: Georg Wendt / picture alliance / dpaCoronakrise, Klimakrise, Krise der Demokratie: Die Zeiten könnten kaum besser sein, um aus der Realität in die Fantasie zu flüchten. DER SPIEGEL hat Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, kleine Utopien für dystopische Zeiten zu schaffen. Die Leitidee: Träumen gegen die Krise. Es folgt, was Ferdinand Schmalz für uns aufgeschrieben hat.
»Die Faktenlage ist bekanntermaßen mehr als dünn«, sagt Noam Kacheltopf, während er noch etwas Badener Grüntee in die Tasse auf seinem Schreibtisch gießt. Es ließe sich heute kaum mehr klären, ob die ersten Aktionen der Gruppe Mondkalb hier an der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen stattgefunden hätten, oder doch, wie vor allem neu erschlossene Quellen nahelegen würden, an der Studiobühne des Staatstheaters Bad Krummfeld.
Unter seinen Kolleginnen und Kollegen von der Theaterwissenschaft sei es jedoch unbestritten, dass diese ersten Aktionen schon jene Anziehungskraft entwickelt hätten, die zu all dem führte, was wir heute nur mehr als die große dramatische Wende bezeichnen würden, so Kacheltopf. Er, der auch eine klassische Ausbildung in Neuerer Mediengeschichte genossen habe, könne nicht umhin, die Wurzeln jener Anziehungskraft in den Jahren nach der Coronakrise zu suchen, als der Druck aus den sogenannten sozialen Netzen sich ins heute kaum mehr Vorstellbare gesteigert hätte. Jene Mischung aus sozialer Abstiegsangst und der Gier nach verwertbarer Anerkennung bereitete erst den Nährboden, auf dem der Wunsch nach dem Angebot der Gruppe Mondkalb gedeihen konnte.
In der heute nur noch wenig bekannten Aktion »Briefwechsel« konnten die Rezipientinnen und Rezipienten ihren Mailverkehr für eine Woche von Mitgliedern des Kollektivs übernehmen lassen. In einem Akt der Grenzüberschreitung kaperten sie die berufliche als auch private Kommunikation ihres Publikums, schrieben Mails in deren Namen, in denen sie kleine poetische Interventionen versteckten. Melo Muff, Mastermind hinter diesen frühen Aktionen, betonte in Interviews immer wieder, dass es gerade um diese unscheinbaren Abweichungen ginge, die auch einen Zweifel am grundsätzlichen Gelingen von Kommunikation schlechthin bewirken sollten. »Ja, kann man überhaupt zu einem andren mittels Sprache durchdringen?«
Stationen eines Lebens, das man so nie geführt hatte
Für »Faces 1-3« arbeiteten sie eng mit den Videokünstlern und Netzaktivisten von Kommando Schoßhund zusammen, die ihnen die ersten Videofilter erstellten, die es ermöglichten, auch bei Videoanrufen in die Identität ihrer Kunden zu schlüpfen. Man hatte die Möglichkeit auf befristete Zeit sein Gesicht an das Kunstkollektiv zu verleihen. Während die Gruppe um Melo Muff mit geringem Andrang rechnete, wurde das Projekt zum Selbstläufer. Immer mehr Leute meldeten sich, um sich von den Künstlerinnen und Künstlern vertreten zu lassen. Es schien, dass sie mit ihrer Kunst den Nerv der Zeit getroffen hatten.
Einer der ersten Kunden war der Tech Investor Martin »Grußbotschaft« Mayer. »Mir war sofort klar, dass das das nächste große Ding sein wird.« Zusammen entwickelten sie jenes improvisierte Studio in Bonn-Beuel, von allen nur liebevoll »die Schüssel« genannt, in dem sie das Video- und Fotomaterial produzierten, nach dem sich ihre Kundinnen und Kunden so sehnten. Geburtstagsfeiern, Hochzeiten, Studienabschlüsse, die allesamt nie wirklich stattgefunden hatten, wurden in »der Schüssel« produziert. Stationen eines Lebens, das man so nie geführt hatte. Es gab Writers Rooms, die Lebensläufe schrieben, Anekdoten eines Lebens, das man so nie geführt hatte. Ja, ganze Familien wurden von den Schreiberinnen und Schreibern der Medienkooperation durchgeskriptet. Während ihre Kundschaft für die fiktiven Geschichten anerkennende Kommentare kassierten, konnten sie sich zurücklehnen, konnten ihr Leben außerhalb der überhitzten Netzwerke wieder genießen.
Noam Kacheltopf beschreibt seine ersten Erfahrungen mit jener Form des Identitätswechsels als große Erleichterung. Zu wissen, dass man die Schranken einer beschränkt subjektiven Sicht hinter sich lassen kann, sei eines der befreiendsten Gefühle gewesen, die er je erlebt habe.
Niemand wusste mehr, was gespielt und was echt war
Anfang der 30er-Jahre begann Mondkalb, Komplettabos anzubieten. Schauspielerinnen und Schauspieler übernahmen vollständig die Identität ihrer Abonnentinnen und Abonnenten, schlüpften hinein in das ihnen fremde Leben, Ziel war es, dass man sich nicht mehr sicher sein sollte, wer einem da denn gegenüberstand. Niemand wusste mehr, was gespielt und was echt war. Man begann auf ungewöhnliche Gesten zu achten, auf seltsame Redewendungen, die einen unachtsamen Spieler oder eine unachtsame Spielerin verraten hätten. Umfragen ergaben, dass in den späten Dreißigern nur mehr knapp 20 Prozent der Accounts auf sozialen Netzen von realen Personen betrieben wurden, der Rest wurde von den Bots der Mondkalb AG und ihren Klickfabriken befüllt.
Aus Knappheit an darstellendem Personal begann die Mondkalb AG Laien einzustellen, was dazu führte, dass immer mehr Menschen Gefallen daran fanden, in andere Leben zu schlüpfen. Den meisten von ihnen reichte es aber nicht aus, unscheinbare Leben in ihrem Alltagstrott zu spielen, was eine schleichende Theatralisierung der Wirklichkeit zur Folge hatte. Man wurde an allen Ecken Zeuge seltsamer Szenen, von denen man annehmen konnte, dass sie inszeniert waren. Die Mondkalb AG sah sich gezwungen, Leitfäden für solche Improvisationen herauszugeben, die Vorläufer der großen Playbooks.
Die Spielweisen wurden in jenen Jahren immer affektierter, die alltäglichsten Tätigkeiten verwandelten sich in Ereignisse wie das Hofzeremoniell unter dem sogenannten Sonnenkönig, Ludwig dem Vierzehnten. Perücken und Plateauschuhe, aufwendige Requisiten und ausgefallene Kostüme prägten den Alltag jener Jahre. Mondkalb AG entwickelte eine App, mittels derer man an den großen Spielen teilhaben konnte.
Ein großes Experiment, an dem fast alle teilhaben wollten
So entstanden riesige mehrsträngige Erzählungen, die verschiedenste Lebensläufe miteinander verknüpften. Die Stadt Ulm führte in mehreren Anläufen das Gesamtwerk von Thomas Bernhard auf, Duisburg wiederum scheiterte an dem Versuch auch nur einen Ausschnitt aus Jelineks »Die Kinder der Toten« zur Aufführung zu bringen. Man konnte mit dem ICE unterwegs sein und plötzlich in ein Kapitel von Hubert Fichtes »Detlevs Imitationen ›Grünspan‹« verwickelt werden. »Es war ein großes Experiment«, so Professor Kacheltopf, »an dem aber fast alle teilhaben wollten.« Es gab freie Souffleure, die auf offener Straße Sätze einflüsterten, Bühnenbildnerinnen, die zu Stadtentwicklerinnen wurden. Ja, es gab ganze Regierungen, die in ihrem absurden Gebaren nur von Satirikern gescriptet sein konnten.
All das, was sich bisher bis ins schmerzlich Quälende gesteigert hatte, bekam nun wieder seinen spielerischen Charakter zurück: die Selbstdarstellung, die Selbstoptimierung, die ins Krankhafte gezogene Selbstreflexion. Alles ging auf im großen Spiel. Alles war plötzlich wieder Theater, und gerade dort, wo es uneindeutig wurde, wo man Fiktion und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten konnte, zog es die Leute besonders an. »Sie haben sich bestimmt auch schon gefragt, wer Ihnen in diesem Moment gegenübersitzt? Ich könnte jeder sein, vielleicht war ich schon mal Sie, vielleicht heiße ich gar nicht Kacheltopf, sondern Schweiger. Vielleicht sind Sie der Herr Kacheltopf. Vielleicht ist das alles nur eine Episode in einer weit größeren Erzählung.«
Und während die Algorithmen leise im Hintergrund schnurren, während draußen auf dem Platz das Unipersonal eine spontane Tanzeinlage einstudiert, während Hunderte von Skriptwritern ihre Finger in die Tasten hauen, um das nächste große Playbook abzuliefern, während professionell geschulte Performerinnen und Performer unsere überquellenden Kanäle mit immer schrägerem Content befüllen, ziehen sich manche zurück in die Berge, liegen in der lauen Brise, zerschlagen ihre viel zu smarten Telefone, erklären jeden für kriminalistisch strafbar, der sich krank arbeitet und bitten Büchner um Makkaroni, Melonen und Feigen.
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