
Hilde Grutzke (Tatja Seibt) und Kommissaranwärter Ross (André Kaczmarczyk, l.): Vollgas mit dem Seniorenmobil
Foto: Rudolf Wernicke / rbbDer eine kämpft mit Pillen und Suff gegen den Stress, der andere macht den Kranich oder die Kobra. Adam Raczek, der nach dem Abgang seiner Kollegin Olga Lenski noch vor Kurzem recht allein in der ostdeutschen Landschaft rumstand, hat endlich einen starken Widerpart. Es ist der Kriminalkommissaranwärter Vincent Ross, der mit kajalverhangenem Blick und großem Yoga-Besteck so ziemlich das Gegenteil vom Obermacker Raczek ist: genderfluid, stylish und achtsam.
Der polnische Boomer mit Motorrad und fehlender Impulskontrolle und der deutsche Hipster mit Wickelrock und abgebrochenem Psychologiestudium, sie sind das neue tolle Odd Couple des Sonntagskrimis. Zwar liegen zwischen Raczek-Darsteller Lucas Gregorowicz (Jahrgang 1976) und Ross-Darsteller André Kaczmarczyk (Jahrgang 1986) gerade mal zehn Jahre Altersunterschied, aber in ihrem ersten gemeinsamen »Polizeiruf« markieren sie mit ihren Figuren immer wieder leichtfüßig die Bruchlinie zwischen den Generationsblöcken dies- und jenseits der 40. Krass divergierende Männerbilder und totales Unverständnis füreinander inklusive.

Ross (l.) und Raczek (Lucas Gregorowicz): Das neue Odd Couple des Sonntagkrimis
Foto: Rudolf Wernicke / rbbDabei wollen die beiden Ermittler doch nur das Beste füreinander: Beim Kennenlerngrillen legt Raczek dem Vegetarier Ross ein paar schöne Fleischlappen aufs Eisen, weil der männliche Körper unbedingt tierisches Protein brauche, und um das rülpsersatt mit Rind- und Schweinefleisch befeuerte Testosteronbollwerk Raczek runterzubringen, probiert Yogi Ross vergeblich ein paar Atemübungen mit ihm aus. Dieses Generationsgeplänkel könnte leicht nerven, wenn es nicht so beiläufig in die Handlung eingebaut worden wäre.
Die wilde Hilde
Auch im Größeren geht es in der Auftaktfolge des neu aufgestellten »Polizeiruf«-Teams um einen Generationskonflikt: Der Messermord an einem jungen Hallodri führt Raczek und Ross in ein verschlungenes Familiendrama, in dessen Zentrum die resolute Großmutter des Opfers steht. Die heißt Hilde Grutzke und hat trotz prekär anmutender Umgebung aus obskuren Quellen ein paar Hunderttausend Euro zusammenraffen können, auf die es nun offenbar einige Leute in ihrem Umfeld abgesehen haben.
Tatja Seibt (Jahrgang 1944) spielt die Oma als unverwüstliche kettenrauchende Matriarchin, die sich mit Sauerstoffflasche und Seniorenmobil ihren Weg durchs Psycho-Dickicht mäht. Dem Rest der Familie begegnet sie mit Abscheu und Verachtung – alles Lutscher außer Mutti. In einer hinreißenden Szene fährt Seibt als wilde Hilde mit dem Rollstuhl-Scooter das Motorrad von Kommissar Raczek um. Grutzke und Raczek: Biker-Rüpel unter sich.
Östlicher Außenposten des Sonntagskrimis
Mit »Hildes Erbe« findet der deutsch-polnische »Polizeiruf« einen rabiaten und zugleich heiteren Tonfall. In der Vergangenheit litt der östliche Außenposten der deutschen Krimiunterhaltung ja oft daran, dass die gewichtigen gesellschaftlichen Themen (Reichsbürger, Rechtspopulismus, katholischer Fundamentalismus) grau in grau inszeniert waren.
Die eigentlich lobenswerte Idee, die Perspektive des großen Fernsehpublikums auf die deutsch-polnische Grenze zu richten, um ein Bewusstsein für diese medial eher vernachlässigte Ecke zu schaffen, führte so leider oft nur dazu, dass man Frankfurt/Oder und Słubice als flächendeckend trostlos empfand und den Blick erst recht abwendete.

Der Relaunch des Grenz-»Polizeiruf« wurde nun von Eoin Moore vorgenommen, der auch schon den eigentümlich ambivalenten Tonfall im Rostock-»Polizeiruf« gesetzt hatte. Gerade erst bescherte er Charly Hübner als Kommissar Bukow einen großen Abgang. Regisseur und Autor Moore, vom proletarischen Drama kommend, gelang es in Rostock immer wieder, soziale Randzonen mit Wut, Witz und Würde ins Bild zu setzen.
Ähnlich ist es jetzt auch in der Episode »Hildes Erbe« (Co-Autorin: Anika Wangard). So führt das Hauen und Stechen in Hildes abgewirtschafteter Familie in ein komplexes psychologisches Drama, und der drollig anmutende Clash von alten und neuen Männerbildern durch Raczek und Ross schlägt dann doch noch blitzartig in unversöhnliche Härte um.
Einmal sitzen die beiden Ermittler im Auto und trinken in zärtlicher Zugewandtheit eine Flasche polnischen Schnaps. Dann stellt sich raus, dass der besonnene Junge dem protein- und pillensüchtigen Alten seine Tabletten weggenommen hat – und schon hat er die Pranken des anderen an der Gurgel, der völlig unzärtlich sein Gift einfordert.
Gut möglich, dass sich der »Polizeiruf« mit Gregorowicz und Kaczmarczyk als großes Generationenlabor des manchmal doch arg in die Jahre gekommenen Sonntagskrimis etabliert.
Bewertung: 8 von 10 Punkten
»Polizeiruf 110: Hildes Erbe«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste
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