
Elke Heidenreich
Malente de Moor ist eine fünfzigjährige niederländische Journalistin und Schriftstellerin. Sie ist die Tochter der Schriftstellerin Margriet de Moor, die jetzt 80 Jahre alt ist und deren Bücher ich immer so gern gelesen habe, weil so viel von Musik darin vorkommt. Denn Margriet de Moor hatte Musik studiert, Klavier und Gesang, und das merkte man ihren Romanen immer an. Ihre Tochter Marente, schön und rothaarig, wie die Mutter, hat Slawistik studiert, hat sehr lange in Russland gelebt. Und doch spielen Klänge und Töne in ihrem Roman auch eine große Rolle. Der Roman heißt nämlich auch »Phon«, und Phon ist das Wort für Klang, Musik, Laut.
Und sie erklärt einmal in diesem Buch Phon als das Hintergrundrauschen unseres Lebens. Als die Protagonistin des Romans Nadja klein war, hat ihr Vater ihr erklärt: »Was du noch hörst und wir längst nicht mehr, sagte er. Das ist Phon, das Hintergrundrauschen des Lebens. Die ganze Geschichte steckt darin, vom schönsten Lied bis zum angsterfülltesten Schrei. Aber fürchte dich nicht. Menschen, die sich vor Geräuschen fürchten, fürchten sich vor ihrer Fantasie. Sie verschließen ihr geistiges Auge und rufen so laut sie können: Es ist nicht echt. Aber die Fantasie gibt es, Nadja, nicht nur im Kopf. Sie ist ein Naturphänomen, wie alles andere und gleitet auf dem Phon dahin wie ein Zug auf den Schienen. Du hast noch eine lebhafte Fantasie, aber glaubt mir, das geht vorbei. Wenn du älter wirst, hörst du das Phon nicht mehr, weil das Alltagsgedudel alles übertönt.«
Aber ganz so ist es nicht. Der Vater behält nicht ganz recht. Nadja hört das Phon, das Lebensrauschen auch noch, als sie älter wird. Sie lebt mit ihrem Mann Lew in der Einsamkeit westrussischer Wälder und was sie da jetzt hören, ist viel bedrohlicher. Sie hören immer so ein lautes Gerumpel und Gepolter, als würde Gott im Himmel Möbel rücken. Das macht ihnen Angst.
Das macht vor allem Lew Angst. Der war mal ein Kerl wie ein Bär. Er war ihr Professor, Zoologieprofessor, sie war seine Schülerin. Sie ist zwanzig Jahre jünger. Sie haben sich ineinander verliebt. Und sie sind in diese Einsamkeit gezogen, um hier zu forschen und um eine Auffangstation für verlassene kleine Bären einzurichten. Das haben sie am Anfang auch alles gemacht. Aber inzwischen ist dieser Ort ausgestorben. Eine Fabrik hat zugemacht, alle Menschen sind weggezogen. Sie sind dort die letzten Übriggebliebenen. Und Lew, der große, starke Bär, ist alt, mürrisch und dement geworden. Und Nadja ist wahnsinnig einsam neben ihm. Und es blieb ihr neben Enttäuschung und Einsamkeit eigentlich nur dieses Grundrauschen des Lebens. Und wir lernen hier ein wirklich gottverlassenes Stück Russland kennen, in denen nicht mal richtig angekommen ist, dass es die Sowjetunion gar nicht mehr gibt. Das spielt alles gar keine Rolle. Es ist einfach ein dunkles Buch über Einsamkeit von zwei Menschen, die sich mal sehr geliebt haben, diese Liebe ist völlig pulverisiert, und über die Natur, die so viel stärker ist als der Mensch und die den Menschen überhaupt nicht braucht und die das Labor überwuchert. Und irgendwann wird sie das Haus überwuchern, als wären die beiden nie dagewesen. Das ist ein großer Gegenwartsroman, ein Monolog über Reales und Geträumtes von Nadja und über das Grundrauschen der Fantasie. Ein fesselndes Buch, in dem eigentlich so gut wie nichts geschieht und dem man sich doch überhaupt nicht entziehen kann. Es hat was Magisches.
Und damit erinnert es mich an ein Buch, das vor 55 Jahren, 1968 bei Claassen erschienen ist, ein Kultbuch geworden ist und zum Glück für Kenner immer noch zu haben ist. Und zwar habe ich hier die Taschenbuchausgabe, bei Ullstein erschienen, von 1985. Und Sie wissen schon, was ich meine, »Die Wand« von Marlen Haushofer. Auch hier erzählt eine Frau, sie ist in diesem Fall namenlos, von ihrem einsamen Leben in der Natur, während die Welt mit allen Menschen und Tieren hinter einer Wand verschwunden ist. Nur sie und ein paar Tiere haben überlebt und am Anfang empfindet sie das als Bedrohung. Und je mehr sie sich auf die Natur einlässt, je mehr sie wieder lernt, wie man sät, pflanzt, erntet und mit diesen Tieren lebt, desto ruhiger wird sie. Mutiger, frei von Angst. Sie wird stark. Sie ernährt sich selbst. Sie hat eine starke Beziehung zur Natur und spürt, dass ihr das gut tut. Bis dann ein Mann auftaucht, mit allem Brutalem und mit Tod und die ganze Idylle zerstört.
Das ist ein immer wieder neu zu lesendes, großes, erschütterndes Buch. Wer das noch nicht kennt, mit Martina Gedeck ist es verfilmt worden. Und ganz eindeutig kennt Marente de Moor dieses Buch und schreibt ihre eigene heutige Version davon. Beide Bücher verneigen sich im Grunde vor der Natur und handeln von Geräuschen, vom Grundrauschen unseres Lebens, das wir bitte in all diesem Lärm um uns herum, nie ganz verlieren mögen.
Und jetzt gucken wir mal, was in dieser Woche auf die Spiegel-Bestsellerliste gerauscht ist:
Diese Woche auf Platz zehn, um fünf Ränge abgestiegen: Sebastian Fitzek und sein crossmediales Werk »Playlist«. Geschäftstüchtig bleibt der Autor trotz des Abstiegs: Neben dem Krimi gibt es weiterhin auch ein Onlinespiel und ein Musikalbum zu erwerben.
Was wäre die Top-Ten-Liste ohne Juli Zeh? Auf jeden Fall überraschend. Noch ist sie im Rennen: »Über Menschen«, der meistverkaufte Roman des vergangenen Jahres, diese Woche auf der Neun.
Auf die Acht klettert »Der Buchspazierer« von Carsten Henn. Der rührige Buchhändler Carl Christian Kollhoff und sein literarischer Lieferservice hat es erneut auf die Liste geschafft – ein Wohlfühlroman gegen das Schmuddelwetter.
Auf Platz sieben: Bernhard Schlink und »Die Enkelin«. Auch hier ist die Hauptfigur ein Buchhändler. Allerdings ist es kein Wohlfühlroman: Hier geht es um einen plötzlichen Tod, Geheimnisse – und eine Spurensuche im Ostdeutschen Nazi-Milieu.
Kein Buchhändler, sondern eine Verlagsangestellte steht auf Platz sechs im Fokus - und zwar im Fokus der Ermittler, denn es geht um einen Mordfall. Es ist der zehnte Fall des Ermittler-Duos Sander und Bodenstein, aufgeschrieben von Nele Neuhaus: »In ewiger Freundschaft«.
Einen einzigen Neueinstieg gibt es diese Woche – auf der Fünf: Die für ihre furiosen Theaterstücke bekannte Yasmina Reza lässt in ihrem Roman »Serge« drei Kinder von Holocaust-Überlebenden nach Auschwitz reisen. Und irgendwie, wie so oft bei Reza, wird eine Komödie daraus.
Auf der Vier treffen wir auf einen weiteren Mann vom Theater: Schauspieler Edgar Selge führt uns in seinem autofiktionalen Roman »Hast du uns endlich gefunden« vor, wie es ist, zwölf Jahre alt und Sohn eines Knastdirektors zu sein.
Um einen Platz auf die Drei abgestiegen ist das Buch mit dem fragwürdigen Titel »Sex ist wie Mehl«. Was das genau bedeutet, verrät Komiker und Tausendsassa Jürgen von der Lippe in, wie es heißt, »Geschichten und Glossen«.
Abrücken von Platz eins – heißt es für das Enfant terrible der französischen Gegenwartsliteratur: Michel Houellebecq. Mit »Vernichten« schafft er es zwar wieder einmal, den Niedergang Frankreichs zu beschreiben – doch diesmal mit ungewöhnlich vielen Zwischentönen. Und das, obwohl es um die Präsidentschaftswahlen 2027 geht.
Und die neue Eins, von Platz 32 hochgestiegen: »Einer von euch« von Martin Suter. Dieser »einer von uns« ist, man mag es kaum glauben, Bastian »Schweini« Schweinsteiger. Mit dem biografischen Roman über den Ex-Fußballspieler trifft der Schweizer Schriftsteller allerdings – so einige Kritiker – keinen literarischen Elfmeter.
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